Die gelegentliche Dosis Wald und See

Ottokar 🦆

Auf der Nordseite

14.01.2021 | Keine Kommentare

Junge Stockenten

Es war schon fast Sommer geworden, die Tage wurden immer länger und wärmer und die Küken waren inzwischen zu jungen Enten herangewachsen, die ihrer Mutter immer ähnlicher sahen. Ottokar wurde immer abenteuerlustiger und kannte inzwischen fast jeden Baum und jeden Strauch am Ufer des Sees. Immer öfter stellte er fest, dass es hier nicht mehr viel Neues zu entdecken gab und immer öfter langweilte er sich. Seinen Geschwistern ging es ähnlich und so kam es, dass sich die jungen Enten immer öfter stritten. Da wusste Ottokars Mutter, dass es Zeit war, längere Ausflüge zu unternehmen und ihrem Nachwuchs neue Gebiete zu zeigen.

Junge Stockenten

«Hört auf zu streiten Kinder und kommt her zu mir», rief sie. Aber die jungen Enten wollten nicht hören und stritten weiter. Da wurde die Mutter etwas lauter: «Seid jetzt brav, wir wollen heute einen grossen Ausflug auf die Nordseite machen.»
Grosser Ausflug? Das hörte sich für Ottokar nach Abenteuer an. Sofort war seine Neugier geweckt und Langeweile und Streit vergessen.
«Was ist Nordseite?», fragte er, als er blitzschnell zu seiner Mutter sauste.
«Dieser Teil des Sees, wo unsere Bucht ist, ist auf der Südseite vom Berg», erklärte sie. «Wenn Du ganz weit nach vorne schaust, dann siehst Du, dass der Berg bis ans Ende des Sees geht. Das ist aber nicht das Ende des Sees, er geht dort nämlich noch weiter um den Berg herum auf die andere Seite vom Berg. Dort ist die Nordseite.»
«Ui, das ist aber weit bis zum Ende. Und der See ist dort noch nicht fertig? Dann ist der See noch viel grösser als man sieht? Wie gross ist er denn? Und wie sieht er auf der Nordseite aus? Leben dort auch Enten?» Ottokar war ganz aufgeregt und stürmte gleich los. Aber seine Mutter pfiff ihn zurück: «Warte noch Ottokar, wir schwimmen alle zusammen und ihr bleibt immer in meiner Nähe. Nicht, dass jemand verloren geht.»

Gegen Mittag erreichten sie den äussersten Punkt des Berges und tatsächlich, da machte der See einen Knick um den Berg herum und sie sahen, dass er noch viel grösser war. So gross, dass man das Ende gar nicht sehen konnte. «Wow!», staunte Ottokar, «sooo viiieeel Wasser, das ist superentenwahnsinnigtoll!» Und schon flitzte er um die Ecke herum.

See

Hier auf der Nordseite war es etwas kühler und der Schatten vom Berg reichte weit ins Wasser hinaus. «Warum ist hier so viel Schatten?», wunderte sich Ottokar.
Seine Mutter wusste, warum: «Das ist im Norden von hohen Bergen immer so. Die Sonne wandert jeden Tag einmal über den Himmel. Also eigentlich wandert sie nicht, sondern die Erde dreht sich einmal im Tag rundherum und das sieht dann so aus, als würde die Sonne durch den Himmel wandern. Sie beginnt am Morgen mit ihrer Wanderung im Osten, am Mittag ist sie im Süden und am Abend im Westen, aber nie im Norden. Jetzt gerade ist sie im Süden und ihre Strahlen werden zum Teil vom Berg verdeckt.» Der Berg war hier auch viel steiler, als auf der Südseite und alles wirkte wilder und grösser. Ottokar kam es vor, als ob er um die Ecke herum in eine andere Welt geschwommen wäre. Was es hier wohl alles zu entdecken gab?

Junge Stockente

Die Entenfamilie schwamm eine Zeitlang am Ufer entlang, als sie an einer Bucht vorbeikamen, wo der Berg nicht ganz so hoch war und die Sonne hineinschien. Eine wunderschöne Bucht mit steilen und von Bäumen bewachsenen Felswänden. Das Wasser war smaragdgrün, tief und kühl und vereinzelte Sonnenstrahlen leuchteten auf dem Wasser, so dass es aussah, als ob Engel auf dem Wasser tanzen würden.

Sonnenschein in der Bucht

Da hielt es Ottokar nicht mehr länger in der Nähe seiner Mutter und Geschwister und schwupps war er in der Bucht drin und jagte den tanzenden Sonnenstrahlen hinterher. Seine Mutter wollte ihn zurückrufen «Ottokar, komm sofort zurück. Geh› nicht so nah an die Felswand heran, das ist sehr gefährlich!» Das kümmerte Ottokar nicht. Was sollte hier an diesem schönen Ort schon gefährlich sein? Und schliesslich war er die ganze Zeit brav gewesen, da brauchte er jetzt dringend einmal eine Pause vom Bravsein. Das hier war viel zu interessant, das musste er sich einfach genauer ansehen.

Strand

In der Bucht war auch ein kleiner Strand. «Ob es dort vielleicht etwas Feines zu essen gibt?», fragte sich Ottokar. «Da will ich gleich mal nachschauen.» Seine Mutter sah das und sie rief noch lauter, dass er zu ihr zurückkommen solle und es dort gefährlich sei. Aber Ottokar hörte nicht auf sie und seine Mutter traute sich nicht näher heran, um ihn zurückzuholen. Plötzlich polterte und krachte es in der Felswand über Ottokar. Noch bevor Ottokar hochschauen konnte um zu sehen, was da los war, wurde er von einer Staubwolke eingehüllt und grosse Steine klatschten nur ganz knapp neben ihm auf den Boden und ins Wasser.

Ottokar hustete und schrie entsetzt auf. Mit einem grossen Satz flüchtete er ins Wassser und schwamm und flatterte so schnell er nur konnte zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Dort angekommen schnappte er mit heftig klopfendem Herzen nach Luft und zitterte am ganzen Körper. Auch seine Mutter zitterte und war ganz ausser sich. Sie war so erschrocken, dass sie gar nicht mehr schimpfen konnte mit Ottokar, und sie musste sogar ein bisschen weinen: «Ottokar Ottokar, warum hast du nicht auf mich gehört? Du hättest sterben können. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist kleiner Ottokar.»

Gämse

Doch was war denn überhaupt passiert da am Strand? Als die Enten sich wieder etwas beruhigt hatten, schauten sie zum Strand und hoch an die Felswand. Da sahen sie, was den Steinschlag ausgelöst hatte; mitten in den steilen Felsen sprangen zwei Gämsen herum. Flink kletterten und rannten sie von Felsvorsprung zu Felsvorsprung, hoch und runter über die Felswand, so schnell und mühelos, wie das nur Gämsen und Steinböcke können. Dabei traten sie immer wieder lose Steine herunter, die dann auf den Strand und ins Wasser fielen. Es war eine Freude, den geschickten Gämsen zuzusehen, jetzt, wo Ottokar in sicherer Entfernung war. Damit Ottokar nie mehr in so eine gefährliche Situation kam, ermahnte ihn seine Mutter: «Vergiss das nie, Ottokar, unter so steilen Felsen ist es gefährlich. Du musst immer damit rechnen, dass Steine herunterfallen. Ganz besonders, wenn da Gämsen sind oder wenn es stürmt. Und jetzt lasst uns einen sicheren Ort finden, wo wir übernachten können, es wird schon bald dunkel. Am besten schwimmen wir wieder zurück auf die Südseite.» Ottokar fand das eine gute Idee und blieb auf dem Rückweg ganz brav bei seiner Mutter. Für heute war seine Abenteuerlust gestillt. Was aber nicht hiess, dass er in Zukunft keine weiteren Ausflüge mehr machen würde…

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